Wahlrecht: Direkt- und Zweitmandate

  • Gestern abend hatte ich mir einige Hochrechnungen angesehen, um nach der Wahl für mich persönlich ihre Zuverlässigkeit zu prüfen.


    Eine Hochrechnung für BW ist mir dabei besonders ins Auge gefallen:


    Bei nahezu gleicher Stimmenzahl von SPD und Grünen hatten beide Parteien jeweils etwa 24% aller Stimmen erreicht. CDU und FDP lagen unter den dann für eine Mehrheit erforderlichen 48%, die Linke war nicht vertreten.


    Bei der anschließenden Sitzverteilung erhielt die SPD aber drei Sitze mehr als die Grünen. Begründet wurde dies mit dem "komplizierten" Wahlecht in BW.


    Jetzt habe ich versucht, das nachzuvollziehen - vergeblich. Wie ich ergoogelt habe, kennt auch das Wahlrecht von BW Ausgleichsmandate für ggf. anfallende Überhangmandate. Und da kann ich rechnen, wie ich will ... einen Unterschied von mehr als einem Sitz bekomme ich nicht heraus.


    Was habe ich übersehen?


    Frankie



    Erg.:
    Laut Anmerkungen zur Hochrechnung wäre die Differenz von drei Sitzen auch bei exakt derselben Stimmenzahl für SPD und Grüne angefallen.

  • Die Überhang und Ausgleichsmandate werden nicht für ganz Baden-Württemberg berechnet sondern in jedem der vier Regierungsbezirke ermittelt. Dadurch kann es noch größere Unterschiede zwischen der Prozentzahl der Stimmen und der Anzahl der Sitze im Landtag kommen. Hier bekommst du ein PDF, auf dem Vermerkt ist wie 2011 die Berechnung für die Sitze erfolgte.






    Gruß

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  • Danke Dir!


    Dass die Ausstattung mit Ausgleichsmandaten getrennt für vier Bezirke errechnet wird, hatte ich natürlich nicht gewusst (und berücksichtigt). Das könnte den Unterschied von drei Sitzen bei gleicher Stimmenzahl möglicherweise begründen.


    Ob ein solches Ergebnis dann aber noch verfassungsgemäß wäre, wage ich zu bezweifeln. Denn den Wählerwillen gäbe es kaum noch wieder. :rolleyes:


    Frankie



    Erg. zum Verständnis für Mitleser:
    Für den Regierungsbezirk Stuttgart etwa hatten Ausgleichsmandate folgende Auswirkung:


    Aufgrund höherer Stimmenzahl als die SPD hätten die Grünen aufgrund gewöhnlichen Verhältniswahlrechts 12 Sitze errungen, die SPD dagegen nur 11 (was eigentlich logisch scheint). Allein der Umstand, dass die CDU überzählige Direktmandate errungen hat (also völlig unabhängig vom Ergebnis von Grünen und SPD) haben Grüne und SPD am Ende jeweils 14 Sitze. Die Zahl der Direktmandate der CDU verschiebt also das Sitzverhältnis anderer Parteien, obwohl sich an den "Prozenten" insgesamt nicht das geringste geändert hat.


    Wenn das in allen Bezirken getrennt voneinander passiert, kann das schon abstruse Früchte tragen. Z.B. können sich Mehrheiten so schon mal "in Luft auflösen", wenn sie nicht allzu deutlich sind. Oder nicht vorhandene Mehrheiten können sich zu solchen entwickeln.

  • Zitat

    Original geschrieben von Handydoctor
    Wer hat so ein Wahlrecht eingeführt?


    Im Zweifel Politiker, die sich davon einen Vorteil versprochen haben :D

  • Wir dürfen nicht vergessen, dass es die Alliierten waren, die nach dem zweiten Weltkrieg erheblichen Einfluss auf die Gestaltung des Bundesdeutschen Wahlrechts genommen haben.


    Das deutsche Wahlrecht ist zum Teil eine "Mixtur" dessen, was man bei den Alliierten findet. Und wenn man von allem nur das beste zusammenmischt, muss das Ergebnis nicht zwangsläufig auch gut sein.


    Hier muss ich die "üblichen Verdächtigen" mal ein wenig in Schutz nehmen - auch wenns schwer fällt. ;)


    Frankie

  • OK, das ist Einleuchtent, aber warum wurde das noch nicht verändert?

    "Was man bei RTL erlebt, lässt am Verstand der Programmverantwortlichen zweifeln"
    Klaus Staeck

  • Die Frage vom Handydoctor ist in der Tat berechtigt ... eine für den Bürger transparentere Berechnung der den Parteien aufgrund ihres Wahlergebnisses zustehenden Sitze wäre inzwischen wirklich zeitgemäß.


    Das Bemühen um verständlichere und bürgernähere politische Strukturen liegt (zu Recht) im Trend ... das Thema Sitzverteilung hätte man also in Angrif nehmen können.


    Das Desinteresse der Abgeordneten an einer Neuregelung könnte darin begründet sein, dass Überhang- und Ausgleichsmandate einen 120 Sitze umfassenden Landtag im Nachhinein "aufblähen" können - spielend leicht auf 150 Sitze. Was den Steuerzahler viel Geld kostet, dürfte Parteisoldaten dagegen freuen. So bekommt auch der eine oder andere mit unterdurchschnittlichem Ergebnis in seinem Wahlkreis noch zu einem Mandat - das er bei Verteilung nur der "normal" zur Verfügung stehenden Anzahl von Parlamentssitzen nicht bekommen hätte. :)


    - Edit - Denkfehler - :gpaul:


    Frankie

  • Ein spannendes Thema :)


    Die Frage von Handydoctor ist auf jeden Fall berechtigt!


    Es ist eher unwahrscheinlich, dass die Politik versucht, die Sitzverteilung für den Wähler intransparent zu gestalten – schlechterdings muss ich hier die Politik verteidigen. Auch ein künstliches Aufblähen der Parlamente ist wohl ein Vorwurf, der nicht haltbar ist.


    Im Gegenteil: Die Sitze dem Wählervotum gemäß zu verteilen, ist ein Optimierungsproblem. Ein Parlament mit beispielsweise 1000 oder 10000 Sitzen würde die Sache vereinfachen – hier ließe sich das Wahlergebnis sicher genauer abbilden. Doch selbst diese Aussage scheint nicht allgemeingültig zu sein – siehe "Alabama-Paradoxon". Das Wahlergebnis liegt in rationalen Zahlen vor und muss auf natürliche Zahlen übertragen werden. Wie verteilt man z.B. 13,4 % der Stimmen gerecht auf 120 Sitze? Ist ein Abrunden gerechter als ein Aufrunden?


    Es ist schlicht und ergreifend nicht möglich, wenn u.a. Personen direkt gewählt werden und gleichzeitig das Prinzip des Verhältniswahlsystems greift, einfache und für alle Bürger transparente Methoden anzuwenden. Überhang- oder Ausgleichsmandate sind korrigierende Elemente, was anschaulich viellicht nicht ohne weiteres klar ist. Man stelle sich vor, eine Partei erringe mehr Direktmandate als ihr durch das Verhältniswahlrecht zustehen. Soll das Wählervotum nun mit Füßen getreten werden, sodass ein Teil der direkt gewählten Kandidaten nicht ins Parlament einziehen darf, um die Relationenen nicht zu verzerren? Oder ist es da nicht doch besser, zusätzliche Sitze zu schaffen, damit andere Parteien ihren relativen Stimmanteil halten können?


    Das System der vier Wahlbezirke in BW und das Fehlen einer Differenzierung in Erst- und Zweitstimme ist natürlich (hinter-)fragwürdig. Doch selbst ohne diese Feinheiten ist ein "einfaches" mathematisches Modell, welches alle Bürger verstehen, nicht verfügbar. Das gilt übrigens generell für tagespolitische Themen. Oder kann man der Politik vorwerfen, dass beispielsweise komplexe ökonomische Fragestellungen von Laien kaum nachvollzogen werden können?

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