JVA Stuttgart - Knast Stammheim - Ein Stück deutsche Geschichte

  • Man mag sich fragen, welchen Zweck dieser Thread verfolgen soll – eigentlich keinen bestimmten.
    Sehr viele hier, besonders die Jüngeren, können wahrscheinlich mit der Thematik auch nichts mehr anfangen bzw. haben keine Assoziationen damit. Denen sei nahegelegt, sich bei Interesse mal nach diesem beklemmenden und bis heute noch nicht völlig aufgeklärten Kapitel deutscher Geschichte zu erkundigen – Stichwort „Deutscher Herbst“.
    Für mich jedoch (Jahrgang 71), der in den 70er Jahren in direkter Umgebung der JVA Stuttgart-Stammheim aufgewachsen ist und regelmäßig nach der Schule zuhause gefragt hatte „Papa, was wollen die vielen Menschen mit den Transparenten auf der Straße vor unserem Haus“, gehört der Knast einfach dazu. Man ist damit aufgewachsen, man lebt damit.
    Ende der 70er war Stammheim wohl die berühmt-berüchtigste JVA Deutschlands und ist bis heute wohl eine der sichersten Europas.
    Und vielleicht interessiert es doch den einen oder anderen, wie es hinten den dicken, mit NATO-Stacheldraht verzierten Mauern und den kilometerlangen Zäunen mit Bewegungsmeldern aussieht.
    Oft wird man gefragt, ob man denn in direkter Umgebung eines solch hässlichen Betonklotzes überhaupt angenehm leben kann. Man kann, sogar sehr gut.
    Ich lebe heute ca. 200 Meter von der JVA entfernt, und es handelt sich durchaus um eine ruhige und angenehme Wohngegend. Der Knast gehört einfach dazu, er ist quasi das Wahrzeichen Stammheims.


    Aber nun zum Thema:
    Worauf ich über 20 Jahre neugierig war, wurde heute endlich befriedigt. Punkt 13 Uhr öffnete sich das Haupttor, und nach einer Personenkontrolle gelangte man in den ersten Sicherheitsbereich, quasi der Empfangsbereich der JVA. Nach der höflichen Bitte, „Handys, Handgranaten und sonstige Sprengstoffe“ doch bitte spätestens hier abzugeben, geht es weiter zu den Besucherräumen. Hierbei werden unterschiedliche Räumlichkeiten für Besuche zur Verfügung gestellt.
    Zum einen die normalen Besucherräume. Dabei werden bis zu 3 Besucher in einen Raum geführt, erst danach wird der Inhaftierte von einem Beamten in den Raum gebracht. Während des gesamten Besuches bleibt dieser Beamte dabei und verlässt ihn auch zusammen mit dem Inhaftierten wieder vor den Besuchern. Der Inhaftierte wird dabei sowohl vor als auch nach dem Besuch durchsucht.
    Desweiteren gibt es auch Besucherräume, bei denen kein Körperkontakt möglich ist. Diese Art von Besuchen kennt man meist aus US-Filmen, der Raum ist durch eine Glasscheibe getrennt. Auch hier ist stets ein Beamte zugegen.
    Zuletzt gibt es noch „optische Besucherräume“. Dabei wird der Inhaftierte zusammen mit dem Besuch in einen Raum geführt, der zwar für sich abgeschlossen ist, jedoch durch Glaswände stets von einem Beamten überwacht wird.


    Weiter geht es in die mit unzähligen Monitoren ausgestattete Torwache. Hier laufen sämtliche Alarm- und Überwachungssysteme der JVA zusammen. Jeder Zentimeter des Aussenbereichs der JVA kann hier durch Kameras eingesehen werden. Ebenso laufen hier sämtliche Alarme auf, die jedoch meist durch Tiere ausgelöst werden, die die Bewegungsmelder kreuzen.


    Weiter geht es über den Innenhof in den Haupttrakt der JVA, den Zellentrakt. Zunächst geht es mit dem Aufzug hoch in den 8. Stock, den Dachhof. Hier ist einer der Höfe, in denen die Häftlinge ihre tägliche Stunde Hofgang geniessen. Wobei man hier nicht wirklich von einem Genuss sprechen kann, denn auch dieser Dachhof ist nochmals überdacht, ca. 1,5 Meter von der Brüstung entfernt sind massive Gitter montiert und das eigentliche Dach ist mit Stacheldraht und weiteren Massnahmen gegen Befreiungsversuche aus der Luft gesichert.


    Nun geht es ein Stockwerk tiefer in den berühmten 7. Stock.
    Aus dem Treppenhaus raus, nach rechts durch eine weitere massive Gittertüre und wir stehen mitten im Hochsicherheitstrakt von Stammheim. Es geht den Gang entlang, alle Türen sind äusserst massiv und mit 5 Schliessungen versehen. Die vorletzte Zelle links ist offen und nicht belegt. Es handelt sich um eine karge 4-Mann-Zelle mit zwei Stockbetten, zwei mehrfach mit Gittern gesicherten Fenstern, einem Blechwaschbecken und einer Toilette, die durch eine kleine Trennwand bis zu einer Höhe von ca. 1,20 Meter sehr dürftig vom Rest des Raumes abgetrennt ist.
    Beinahe auf den Tag genau 27 Jahre nach der „Todesnacht von Stammheim“ am 18.10.1977 stehen wir in der Zelle von Andreas Baader.
    Es ist ein ziemliches beklemmendes Gefühl, sich auf diesen ca. 15 Quadratmetern aufzuhalten – dabei ist die Zellentüre doch offen und man kann den Raum jederzeit verlassen.
    Es geht wieder hinaus auf den Gang. Zwei Zellen weiter ist die ehemalige Zelle von Jan-Carl Raspe, gegenüber kam Gudrun Ensslin ums Leben. Man spürt nahezu, welches bis heute noch nicht vollständig aufgeklärte Geheimnis der deutschen Geschichte diese Räume in sich bergen.
    Viele Zellen dieses Traktes sind übrigens heute durch „normale“ Strafgefangene belegt.


    Nun geht es in den Keller der JVA zu den speziellen Zellen für Randalierer und sonstige Tunichtgute, die sich durch Angriffe auf Vollzugsbeamte eine vorübergehende „Sonderbehandlung“ verdient haben. Es erwartet uns stickige Luft, die mit jeder Metalltüre, die wir durchschreiten, immer schlechter wird. Schliesslich sind wir bei den Arrestzellen angekommen. Dabei handelt es sich um ca. 6 Quadratmeter große Räume, in denen ausser einer Gummimatratze mit reissfestem Bezug und einem Plumpsklo rein gar nichts ist. Keine Fenster, kein Türknauf, keine scharfen Kanten – nichts! Hier möchte ich keine 10 Minuten meines Lebens hinter verschlossener Türe verbringen!
    Vor dem Bezug dieser netten Räumlichkeiten wird der Inhaftierte vollkommen entkleidet, damit er auch keine Möglichkeiten hat, sich selbst etwas anzutun.


    Weiter geht es zu den diversen Werkstätten der JVA, darunter u.a. eine Kfz-Werkstatt, eine Schlosserei und eine Schreinerei. Hier werden Strafgefangene beschäftigt und gleichzeitig resozialisiert, um nach Ablauf der Haftstrafe eine bessere Möglichkeit zu haben, sich wieder in ein normales Leben einzugliedern. Ebenso werden hier auch Kundenaufträge von aussen abgearbeitet, nicht wenige namhafte Firmen lassen unter anderem teilweise in der JVA Teile fertigen.


    Nach einem kurzen Imbiss in der Kantine des Oberlandesgerichtes, das sich ebenfalls auf dem Gelände der JVA befindet, kommt der angenehmste Teil dieses Nachmittages – wonach sich wohl jeder Inhaftierte sehnt:
    Einfach so aus dem Tor hinausschlendern, die Gedanken sortieren, nochmals zurückblicken und einen äusserst interessanten Nachmittag nochmals in Gedanken durcharbeiten.


    Nachfolgend noch ein paar Bilder der JVA, allerdings allesamt in der Aussenansicht. Es dürfte selbstverständlich sein, dass in der JVA selber keine Fotos gemacht werden dürfen.
    Beim Klick auf die kleinen Pics öffnet sich das Bild in Originalgröße in einem neuen Fenster.


    Carsten










  • Krasse Hütte! :rolleyes:


    Mich hat die Thematik ebenfalls schon sehr interessiert, eher aber die Fälle aus den 80ern, insbesondere die Ermordung von Alfred Herrhausen ("Black Box BRD").


    Hat es eigentlich jemals geschafft aus dem Ding zu flüchten?

  • Zitat

    Original geschrieben von Intruder


    Hat es eigentlich jemals geschafft aus dem Ding zu flüchten?

    Man erzählt sich ;) von drei Mann, die es wohl in der Geschichte von Stammheim geschafft hätten.


    Harte Quellen gibt es dafür aber nicht, auch nicht via Google.


    EDIT:
    Kommando zurück, hier ist doch was:


    Zitat

    Das 1963 nach modernsten Erkenntnissen gebaute Gefängnis mit heute 850 Häftlingen stand auch für höchste Sicherheit. Auf die Frage, ob die mit Stacheldrahtzaun und Sichtbetonwänden umschlossene Haftanstalt noch heute die sicherste Deutschlands sei, antwortet Joachim: "Mit Sicherheit nicht." Neuere Gefängnisse hätten in puncto Technik und Elektronik einen höheren Standard. Allerdings seien bislang erst drei Häftlinge aus Stammheim ausgebrochen.


    http://www.stuttgarter-nachric…kel_bildlinks_druck_teile

    Hätte der Mensch nur halb so viel Vernunft wie Verstand, dann wäre alles viel einfacher in der Welt. Linus Pauling

  • Zitat

    Original geschrieben von Intruder
    Hat es eigentlich jemals geschafft aus dem Ding zu flüchten?


    Ja, aber weit kam er nicht, nur ein paar Straßen weiter. :D


    ;)

    “Das Leben ist wie ein Fahrrad. Man muß sich vorwärts bewegen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.” Albert Einstein

  • Hi,


    erstmal ein Lob an Carsten, sehr interessanter Beitrag!
    Guter Testbericht. ;)


    Da zu Thematik passend: Wir haben im Urlaub über die optimale Nutzung der Arbeitskraft von Häftlingen diskutiert. Dabei sind wir auch auf Sicherheitsfragen gekommen, da man ja einen Arbeitseinsatz auf Feldern o. ä. sehr stark bewachen müsste, so dass meiner Meinung nach alleine durch die erhöhten Kosten des Personals der Effekt, die Minderung der Kosten für die Allgemeinheit, zunichte gemacht würde. In diesem Zusammenhang: Darf ein Wärter auf einen flüchtenden Verbrecher schießen? Mal nicht vom moralisch/ethischen Standpunkt aus, sondern bezogen auf aktuell geltendes deutsches Recht. Szenario: Häftling überwindet Zaun/Mauer etc. und läuft auf freiem Feld weg vom Gefängnis, ohne Geiseln genommen zu haben oder bewaffnet zu sein.
    Meiner Meinung nach ja absolut nein. Schusswaffenverwendung ist doch auf Notwehr bzw. Gefahr im Verzug beschränkt. In diesem Falle gibt es ja aber keine unmittelbare Bedrohung für Dritte.
    Da nicht gewährleistet ist (bzw. sogar sehr unwahrscheinlich), dass man gezielt ein Bein oder andere nicht kritische Körperteile treffen könnte, wird jeder Schuss zum Risiko. Daher kann das Schießen auf flüchtende Häftlinge meiner Meinung nach nicht erlaubt sein.


    Any ideas, anyone?

    Walking on water and developing software from a specification are easy if both are frozen.
    – Edward V Berard

  • Im Fernsehen sieht man ja dann meisten wie auf ein Auto eines Flüchtenden geschossen wird - und das auch aus einer Entfernung bzw. in einer Situation die genaues Zielen nicht erlaubt. Dass der Fernseher nicht immer Recht hat ist klar, aber das die Fernsehserie Berater (z.B. Arzte) hinzuziehen ist auch bekannt.

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    Als ich zurückkam von den Reisen und sah am Gepäckband das erste mürrische Gesicht, da dachte ich: Das ist meine Heimat. - Harald Schmidt

  • Zitat

    Original geschrieben von xoduz
    Szenario: Häftling überwindet Zaun/Mauer etc. und läuft auf freiem Feld weg vom Gefängnis, ohne Geiseln genommen zu haben oder bewaffnet zu sein.
    Meiner Meinung nach ja absolut nein. Schusswaffenverwendung ist doch auf Notwehr bzw. Gefahr im Verzug beschränkt. In diesem Falle gibt es ja aber keine unmittelbare Bedrohung für Dritte.


    Obwohl die Vollzugsbeamten durchaus auch an der Waffe ausgebildet werden und regelmässig Schießübungen vorgenommen werden, wird AFAIK normalerweise im Dienst keine Waffe getragen. Verständlich, das wäre auch viel zu gefährlich, würde ein Inhaftierter mit einer kurzen Handbewegung eine Waffe aus einem Holster entwenden und Geiseln nehmen.
    Wie das nun bei den Torposten gelöst ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Möglicherweise sind diese bewaffnet, denn sie sitzen zunächst einmal auch hinter Panzerglas.
    Sollte wirklich einem Inhaftierten die Flucht gelingen, ist er entweder zunächst mal weg oder aber er hängt jämmerlich jaulend im Nato-Draht (ist eher wahrscheinlich, siehe Bilder oben). Wachtürme und sonstige Dinge existieren übrigens nicht.
    Wenn er die Flucht aus der JVA schafft, haben IMHO die Beamten des Justizvollzugsdienstes erstmal nichts mehr zu melden, da sie ausserhalb des Geländes der JVA keine primären hoheitlichen Aufgaben mehr wahrnehmen. Hier kommt nun die normale Polizei ins Spiel, die dann eben vollkommen normal fandet und angemessen vorgeht. Ob es sich bei der Fahndungsperson im einen entflohenen Sträfling handelt oder um einen Kioskdieb auf der Flucht, dürfte wohl weitgehend irrelevant sein - sofern es sich nicht gerade um Jack the Ripper handelt. ;)
    Hier gilt wie immer die Verhältnismässigkeit der Mittel,


    Aber: Ist wie gesagt alles IMHO und ohne Gewähr.

  • Hab Deinen Bericht voller Interesse gelesen. Kann mich noch gut an meine Ausflüge als Jugendlicher nach Stammheim (komme aus Kornwestheim) erinnern. Hätte mich auf jeden Fall auch brennend interessiert wie das ganze von Innen aussieht.

  • Zitat

    Original geschrieben von xoduz
    In diesem Zusammenhang: Darf ein Wärter auf einen flüchtenden Verbrecher schießen? Mal nicht vom moralisch/ethischen Standpunkt aus, sondern bezogen auf aktuell geltendes deutsches Recht. Szenario: Häftling überwindet Zaun/Mauer etc. und läuft auf freiem Feld weg vom Gefängnis, ohne Geiseln genommen zu haben oder bewaffnet zu sein.
    Meiner Meinung nach ja absolut nein. Schusswaffenverwendung ist doch auf Notwehr bzw. Gefahr im Verzug beschränkt. In diesem Falle gibt es ja aber keine unmittelbare Bedrohung für Dritte.
    Da nicht gewährleistet ist (bzw. sogar sehr unwahrscheinlich), dass man gezielt ein Bein oder andere nicht kritische Körperteile treffen könnte, wird jeder Schuss zum Risiko. Daher kann das Schießen auf flüchtende Häftlinge meiner Meinung nach nicht erlaubt sein.


    Any ideas, anyone?


    Hi, ich hab den Thread erst durch Carstens Link im Schlüssel-Thread entdeckt.


    Da ich ebenfalls Vollzugsbeamter (in Bayern) bin, kann ich auf die Frage von xoduz näher eingehen.


    Ein Vollzugsbeamter, darf um einen Gefangenen an der Flucht zu hindern unmittelbaren Zwang anwenden, und dazu gehört auch der Gebrauch der Schusswaffe.


    § 94 Allgemeine Voraussetzungen StVollzG


    (1) Bedienstete der Justizvollzugsanstalten dürfen unmittelbaren Zwang anwenden, wenn sie Vollzugs- und Sicherungsmaßnahmen rechtmäßig durchführen und der damit verfolgte Zweck auf keine andere Weise erreicht werden kann.


    (2) Gegen andere Personen als Gefangene darf unmittelbarer Zwang angewendet werden, wenn sie es unternehmen, Gefangene zu befreien oder in den Anstaltsbereich widerrechtlich einzudringen, oder wenn sie sich unbefugt darin aufhalten.



    Allerdings gibt´s dabei einiges zu beachten, d.h. der Gefangene muss sich noch innerhalb der Mauer befinden, er darf nur flucht- oder angriffsunfähig geschossen werden und der unmittelbare Zwang muss angedroht werden, in dem Fall genügt ein Warnschuss. Ausserdem ist es ja nicht so, dass der Gefangene von dem Risiko nichts weiß, denn es wird jeder Gefangene bei seiner Aufnahme in der Anstalt über den Schusswaffengebrauch belehrt und er muss dafür auch unterschreiben.


    Zum Thema Waffen innerhalb der JVA kann ich noch sagen, dass in der Anstalt selbst grundsätzlich keine Schusswaffen getragen werden. Sofern Wachtürme vorhanden sind, sind diese Wachen mit Gewehren ausgestattet. Zusätzlich kann es noch der Fall sein, dass während der Nacht das Aussengelände der Anstalt mit einer Streife gesichert ist, dann ist auch diese bewaffnet.


    Wer noch mehr wissen will, kann hier im Strafvollzugsgesetz ab §94 mehr über Unmittelbaren Zwang und die Voraussetzungen dafür nachlesen.


    So long Semmal

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